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L.A. Crash schockt favorisierten Brokeback Mountain

Eine solche Überraschung in der Hauptkategorie des „besten Films“ hat es seit Jahren nicht mehr gegeben, vermutlich seit 1998 nicht, als der sichere Favoritentipp Der Soldat James Ryan gegen die Liebesromanze Shakespeare in Love verlor, sehr zum Ensetzen des damaligen Laudators und Spielberg-Intimus Harrison Ford, der den Preis eigentlich an seinen alten Freund hatte übergeben wollen - aber der Liebesfilm schlug das Kriegsdrama.

In der diesjährigen Oscarnacht war eigentlich alles auf den Sieg eines etwas anderen Liebesfilms eingestellt gewesen, des in der amerikanischen Öffentlichkeit breit diskutierten Brokeback Mountain, der von einer versteckten Liebe zweier schwuler Cowboys erzählt, die sich im erzkonservativen Amerika der frühen sechziger Jahre in den Bergen von Montana begegnen. Der Film hatte im Vorfeld nahezu alle wichtigen Vorpreise gewonnen, war mit den meisten Nominierungen ins Rennen gegangen und spielte von allen in der Hauptkategorie nominierten Filmen das meiste Geld an der Kinokasse ein. Am Oscarabend hatte der Film auch schon drei Preise gewonnen, unter anderem für das beste adaptierte Drehbuch und den besten Regisseur Ang Lee. Die Oscars leben aber nun einmal von Überraschungen, und da die Veranstaltungen der letzten Jahren zumeist ohne jede Überraschung abgelaufen waren, bedeutet allein die Tatsache, dass letztlich alles anders kam, als erwartet, eine Art Frischzellenkur für den vorhersehbar verlaufenden Abend.
Bis dorthin verlief nämlich alles ganz nach Plan. Zunächst hatte George Clooney den Preis als bester Nebendarsteller in Syriana bekommen. Keine schauspielerische Glanzleistung (William Hurts Performance in A History of Violence war preiswürdiger), aber eine frühe Entschuldigung dafür, dass Clooney für seine eigentlich bedeutendsten Leistungen des Jahres, das Drehbuch und die Regie für Good Night, and Good Luck, leer ausgehen würde: „Das bedeutet jetzt wohl, ich gewinne nicht als bester Regisseur!“, scherzte Clooney während seiner Dankesrede und traf den Nagel auf den Kopf. Rachel Weisz wurde beste Nebendarstellerin in Der ewige Gärtner. Keine Überraschung zwar, aber eine goldrichtige Entscheidung.

In den Hauptkategorien waren die großen Hollywoodproduktionen dieses Jahr überraschend unterrepräsentiert geblieben, aber in den technischen Nebensparten räumten sie erwartungsgemäß kräftig ab: Die Geisha erhielt drei Preise für Kamera, Ausstattung und Kostüme, während King Kong für Ton, Ton-Effekte und Visuelle Effekte ausgezeichnet wurde. Etwas Leben kam zwischendurch in die Bude, als die Hip Hop-Kombo „3-6 Mafia“ den Preis für den besten Filmsong überreicht bekam, für „It´s hard out here for a pimp“ aus Hustle and Flow. Der Song schlug unter anderem die ebenfalls nominierte Dolly Parton, was man getrost als Zeichen dafür deuten kann, dass die Academy zunehmend von jüngeren Mitgliedern aufgemischt wird. „Hier im Saal ist niemand so enthusiastisch wie die Jungs von 3-6 Mafia!“, ulkte Moderator John Stewart, der erstmals – und durchaus witzig – durch den Abend führte. „Bester fremdsprachiger Film“ wurde der favorisierte südafrikanische Beitrag Tsotsi, was bedeutete, dass Sophie Scholl ein Überraschungscoup verwehrt blieb. Als es zu den Preisen für die besten Hauptdarsteller kam, wiederholte sich das Szenario, das man schon bei den Golden Globes und diversen anderen Vorpreisen hatte beobachten können. Reese Witherspoon gewann als June Carter in Walk the Line, während Philip Seymour Hoffman als exzentrischer Autor im Biopic Capote ausgezeichnet wurde. Die Entscheidungen sind durchaus verdient und nachvollziehbar, aber halt doch genau das, was ohnehin jeder erwartet hatte. Reese Witherpoon hielt eine emotionale Rede und dankte unter anderem ihrer Großmutter, die ihr Stärke und Selbstbewusstsein mit auf den Weg gegeben habe, sowie der porträtierten Country- Sängerin June Carter, die Witherspoon vor ihrem Tod sagte, sie habe immer versucht, ein bedeutungsvolles Leben zu führen.

Die Oscars würden nur halb soviel Spaß machen, wenn man nicht auch kräftig über sie streiten könnte. Der Überraschungssieg von L.A. Crash bleibt meiner Meinung nach, trotz des willkommenen Überraschungs-Effekts, künstlerisch fragwürdig. So wichtig und aktuell die soziale Thematik in L.A. Crash auch sein mag, der Plot ist deutlich überkonstruiert und die emotionalen Momente wirken reichlich manipulativ. Trotzdem gab es insgesamt drei Oscars: bester Film, bestes originales Drehbuch und bester Schnitt. Good Night, and Good Luck ging, wie George Clooney wohl schon früh geahnt hatte, komplett leer aus, was verdeutlicht, das die soziale Situation der Hollywoodbranche zur Zeit mehr auf den Nägeln brennt als die politische Botschaft der Meinungsfreiheit, für die Clooneys Film streitet. Auch Brokeback Mountain wäre, obwohl nicht Ang Lees bester Film (Tiger & Dragon war innovativer), ein verdienterer Sieger als L.A. Crash gewesen. Das gefühlvolle, abseits seiner Thematik allerdings grundkonventionelle Schwulendrama wird sich trotz seiner drei Oscars wohl als Verlierer fühlen, zu hoch war sein Favoritenstatus.

Alle anderen Oscars hin oder her, der verdienteste Oscar des Abends ging als Ehrenpreis an Robert Altman. Der Regieveteran, der zeitlebens eher ein Hollywood-Außenseiter geblieben ist, hat in seinem Leben Filme wie M.A.S.H., Nashville, The Player oder auch – etwas aktueller – Gosford Park gedreht. Sein 1971 abgedrehter McCabe & Mrs. Miller etwa, der Altmans persönlichen Abgesang auf den Western-Mythos darstellt, kann künstlerisch nicht nur Brokeback Mountain, sondern alle nominierten Filme dieses Hollywood-Jahrgangs in die Tasche stecken.

Verweise:

Dominik Rose
06.03.2006



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